Heinz Piecha

Die Familie von Ganczarsky aus Hindenburg/OS

(Stand: Dezember 2009)

Im Nachlass meiner Mutter Elfriede Piecha, geb. von Ganczarsky, befanden sich Schriftstücke und Dokumente, die sich ausführlich mit der Genealogie der Familie befassen. Neben Ahnentafeln und Nachkommenlisten gehören dazu auch genealogische Aufzeichnungen meines Altvaters Joseph Ganczarsky aus dem Jahre 1863, sowie ein Wappen des „Geschlechts von Ganczarsky“ mit aus dem Jahre 1858 datierenden heraldischen Erläuterungen, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Die verfügbaren kirchlichen und standesamtlichen Personenstandsdokumente belegen zudem, dass der Hindenburger Zweig der aus dem Kreis Rybnik stammenden Familie Ganczarski/y seit spätestens 1874 in offiziellen Urkunden den Namen „von Ganczarsky“ bzw. „von Ganczarski“ über drei Generationen hinweg bis hin zum letzten Namensträger gut 125 Jahre lang geführt hat.

Dieses Faktum ebenso wie die nachgelassenen Aufzeichnungen nehme ich zum Anlass, mich im Folgenden ausführlich mit dem Hindenburger Ganczarsky-Zweig zu befassen und alles das zu Papier zu bringen, was ich über diese Familie in Erfahrung bringen konnte bzw. selbst noch weiß. Ich erfülle damit auch einen letzten Wunsch meiner von mir sehr verehrten und geliebten Mutter, die mich ausdrücklich darum bat, dass ich mich einmal intensiv mit der Geschichte und Herkunft unserer Ganczarski/y-Vorfahren beschäftige.

Ebenso fühle ich mich auch meinen inzwischen verstorbenen Onkeln Alfred Smyczek und Hermann Hampf verpflichtet, die mir bis zuletzt zugeraten haben, den Inhalt der in meinem Besitz befindlichen Dokumente, die u. a. mein Vater mit zum Teil erheblichem Aufwand beschafft hatte, aufzubereiten und der interessierten Verwandtschaft zugänglich zu machen.

Zudem werde ich aber auch jüngeren, schon von mir persönlich miterlebten Familiengeschehnissen und meiner eigenen Lebensgeschichte gebührenden Raum geben. Vielleicht gelingt es mir auf längere Sicht, ein farbiges Bild von den Lebensverhältnissen einer oberschlesischen Bergarbeiterfamilie und mancher ihrer Nachkommen zu vermitteln, das deutlich über die Aufzählung reiner Personenstandsdaten hinausgeht. Dabei bin ich aber auf Resonanz aus dem Personenkreis angewiesen, der unserer Familie verwandtschaftlich oder durch enge Bekanntschaft verbunden ist.

Ich kann nicht umhin, zumindest in knapper Form die genealogischen Hinweise wiederzugeben, die dem oben genannten Wappen beigefügt sind. Danach soll sich der Name Ganczarsky aus der Bezeichnung der türkischen Elitetruppe der Janitscharen herleiten. Osmann, der Sohn eines türkischen Janitscharenführers, soll in Ungarn zu den Österreichern übergelaufen sein, sich im österreichischen Heer mit Bravour ausgezeichnet haben und für seine Verdienste von Kaiser Leopold I. im Jahre 1658 mit einen „Wappenbrief“ zum Namen „von Ganczarsky“ ausgezeichnet worden sein. Georg Ganczarsky, ein Nachkomme Osmanns, soll „ums Jahr 1769 in Diensten des Großherzogs Leopold II. von Toscana“ gestanden haben.

Diese Wappenerläuterungen, die seinerzeit zu einer hohen, bis zum heutigen Tag in vielen Familienüberlieferungen nachwirkenden Aufwertung aller Ganczarski-Familien, nicht nur des Hindenburger Zweiges, beigetragen haben, lasse ich bis zum Vorliegen einer fachmännischen Expertise unkommentiert. Mein Altvater Joseph Ganczarsky knüpft hieran jedenfalls in seinem 1863 verfassten Text „Fernerer Verfolg des Ganczarskischen Familien-Stammbaumes“ wie folgt mit nunmehr meist urkundlich belegbaren Fakten an:

„Dieser“, gemeint ist der oben erwähnte Georg, „erzeugte einen Sohn namens Johann Ganczarsky, der mein Großvater war! Der Johann Ganczarsky trat dann in die Dienste des Baron Stillfried, der auch in Oestereich Galitien, außer den hier im Rybniker Kreise belegenen Dörfern, Lissek, Neudorf, Neuhoff, Dziemiercz, Lukow und Czernitz, bedeutende Güter hatte, als ein Forstadministrator.

Dieser Johann v. Ganczarsky, mein Großvater, überzog aus Oesterreich aus dem Dorfe Kraczienetz, erstlich unter die Herrschaft Belk als ein Forstverwallter, dann später nahm er wieder Forstdienste unter dem Baron Stillfried in Lukow, wo er bis zu seinem Tode verblieben war!

Dieser p: Johann Ganczarsky erzeugte unter andern auch meinen Vater, den Joseph -Otto- Ganczarsky, der erstlich schon in Oesterreich als Leibjäger bei dem Baron Stillfried war, dann später in Lissek unter demselben auch als Landwirtschaftlicher Waldbereyter fungierte, außerdem war er Freygutsbesitzer und einer der ersten hier in der Gegend gewesenen Holzkaufmänner, bis zu seinem Ableben. Mein Vater, der Joseph -Otto- Ganczarsky erzeugte mich, Joseph Emanuel Ganczarsky 1803, d. 19 Oktober, außer mir den Bruder resp. Sohn Johann, Julius und Moritz, hiervon sind die Brüder Johann und Julius Königliche Förster. Und, nächst uns Söhnen, ist die Schwester Ernestine aus der ersten Ehe, die verehelicht ist an den Gutsbesitzer Joseph Polednik zu Lissek, Neudorf und Neuhoff.“

Soweit die Ausführungen des in Lissek geborenen Joseph zu Vater und Großvater. Dann folgen einige Details zu seinen eigenen Kindern:

„Von mir, dem Joseph -Emanuel- Ganczarsky, Königlicher Förster, zur Zeit stationiert in Sczejkowitz, in der Oberförsterei Paruschowitz resp. Rybnik, sind erzeugt mit meiner Frau, der geborenen Amalie Marneke aus Calau in der Niederlausitz, ihr Vater hieß Georg Marneke, war ein Chemiker resp ein Feuerwerker, die Söhne: Emil, Joseph, Emanuel und Paul und Carl Pius …“

Während Joseph Ganczarsky seine Söhne nur namentlich aufführt, geht er etwas ausführlicher auf die Lebensschicksale seiner Töchter Mathilde, Antonie (Beck), Marie (Schalast), Josephine und Anna ein:

„…Matilde, die in Amerika gestorben ist, den 9. August 1858 in New Orleans, wohin sie mit ihrer Mutter, der Amalie Ganczarsky, meiner Frau, gereiset war. Dann die Tochter Antonie, die an einen Eisenbahn-Beamten Carl Beck verehelicht ist – zur Zeit in Alt Kramnitz Kreis Hirschberg stationiert.

Dann die Tochter Marie, die verheiratet ist an den Fleischermstr. Schallast in Peiskretscham. Dann die Tochter Josephine, die in ihrem 20jährigen Alter, damals in Lissek bei meiner Schwester verweilend, von dem Verwalter meines Schwagers Polednik in seiner Trunkenheit und Leichtsinnigkeit erschossen worden ist, und das an dem heiligen Stephans-Tage, den 26. Dezember 1862.

Dann die Tochter Anna, die im dritten Jahre, den 3. September 1843 abgelebt … ist.“

Soweit die von Joseph Ganczarsky hinterlassenen genealogischen Notizen. Weitere Einzelheiten über seine Vorfahren und die nicht zum Hindenburger Zweig gehörenden Nachkommen finden sich in der von meinem, aus der Lisseker Linie stammenden Blutsverwandten Jürgen Schadnik (der mir auch beim Abfassen dieses Textes behilflich war) erstellten Geschichte der Ganczarski-Familien aus dem Kreis Rybnik.

Josephs Sohn, mein am 12.7.1847 in Sczejkowitz geborener Urgroßvater Emanuel von Ganczarsky, heiratete am 23.6.1874 in Peiskretscham die am 5.6.1849 in Peisketscham als Tochter des Fleischermeisters Valentin Schalast (*9.2.1819 Peiskretscham) und seiner Frau Antonia Nowak geborene Mathilde Schalast und begründete damit, als Maschinenwerkmeister in Hindenburg tätig, den Hindenburger Zweig der Ganczarsky. Erstmals erscheint der Namensvorsatz „von“ anlässlich der Heiratseintragung in das Peiskretschamer Kirchenbuch in einem amtlichen Dokument.

Über meinen Urgroßvater Emanuel wurde bei uns zu Hause erzählt, dass er ein strenger Familienvater gewesen sein soll. In seiner Familie herrschte Zucht und Ordnung. Er war sparsam, ehrgeizig und strebte danach, beruflich eine angemessene Position zu erreichen, was ihm als Werkmeister schließlich gelang. Sein Sohn Josef, mein Großvater, konnte sich nicht erinnern, je ein liebevolles und harmonisches Verhältnis zu seinem Vater gehabt zu haben. Kam Josef von einem Umtrunk mit Freunden spät nach Hause, gab es unweigerlich Ärger. Wahrscheinlich war Josef aus diesem Grund später seinen neun Kindern ein liebevoller Vater.

Emanuel starb am 17.9.1901 in Zaborze, Mathilde am 28.1.1912 ebenfalls in Zaborze. Ausführliche Informationen über die Peiskretschamer Familie Schalast sind von der Internetseite des Familienforschers Gregor Olawsky abrufbar.

Neben meinem Großvater, dem am 19.3.1880 in Alt-Zabrze geborenen Josef von Ganczarsky († Hindenburg 1930), der von Beruf Grubenaufseher war, dürfte ein weiterer Sohn des Ehepaares der in Adressbüchern von Hindenburg verzeichnete Johann von Ganczarski gewesen sein, dessen Beruf ebenfalls Grubenaufseher war.

Josef heiratete am 29.1.1906 die am 25.1.1888 in Knurow geborene Maria Greiner, Tochter des Bergmanns Franz Greiner (*Czuchow 12.5.1862, †Paulsdorf 12.4.1934) und der Valeska Walluschek (*Knurow 31.8.1859, † Paulsdorf), die am 15.11.1886 in dem zum Kirchspiel Gieraltowitz gehörenden Dorf Knurow geheiratet hatten. Eltern Franz Greiners waren der Bergmann Jakob Greiner (*Alt-Dubensko 11.7.1835, †29.3.1900) und Florentine Piffczyk (* Czuchow 17.1.1837, †13.7.1912), die am 21.10.1857 in Dubensko geheiratet hatten. Eltern der Valeska Walluschek waren der Schänker Carl Walluschek (*Groß Petrowitz 23.12.1834, † Knurow 3.10.1913) und die Viktoria Lensa (*Knurow 18.12.1836, †Knurow 16.6.1917).

Meine Großeltern wohnten in der Hindenburger Dorotheenstraße gegenüber der Guido-Grube. Großvater Josef von Ganczarsky war als Grubenaufseher u. a. für den ordnungsgemäßen Abtransport der beladenen Loren zuständig. Als eines Tages die Bremse einer Lore versagte, geriet er zwischen zwei der Wagen und wurde schwer verletzt. Nach einer vergeblichen Operation in einem nahe gelegenen Hindenburger Krankenhaus verstarb er im August 1930 an den Folgen des Unfalls.

Als ältestes Kind meiner Großeltern Josef und Maria wurde meine Mutter Elfriede von Ganczarsky am 29.7.1906 in Knurow geboren. Ihr folgten die Schwestern Adelheid (*Czuchow 28.9.1909), Elsbeth (*Kunzendorf 19.6.1913), Maria (*Kunzendorf 30.7.1916), Margaretha (*Kunzendorf 2.12.1918), Johanna (*Kunzendorf 4.4.1921), Stephanie (*Hindenburg), Charlotte (*Hindenburg 15.7.1925) und der Bruder Waldemar (*Hindenburg 15.2.1929).

Meine Mutter heiratete am 23.8.1931 in Hindenburg meinen Vater, den am 19.10.1895 in Paulsdorf geborenen Lohnrevisor Johann Piecha. Zwar war auch sein Vater, der am 6.4.1855 in Preiswitz geborene Konstantin Piecha, Bergmann in Hindenburg, wo er am 25.7.1924 auch starb, aber er hatte, ebenso wie seine Frau, die am 1.10.1859 in Preiswitz geborene und am 4.9.1936 in Hindenburg gestorbene Franziska Pieper (meine Großmutter väterlicherseits), einen bis zu den Alteltern zurückverfolgbaren bäuerlichen Hintergrund.

Nicht nur Konstantins Vater, der am 10.5.1814 in Preiswitz geborene und am 27.11.1865 ebenfalls dort gestorbene Johann Piecha war Landwirt. Auch dessen am 13.7.1773 in Preiswitz geborener Vater Paul, der am 28.1.1806 in Preiswitz die am 4.8.1771 in Preiswitz geborene Marianne Wieduch heiratete, wird im Kirchenbuch bereits als Gärtner bezeichnet. Ebenso war der Vater von Konstantins Frau Marianne Dudlo (* Preiswitz 23.1.1819, † Preiswitz 18.7.1876), die er am 13.6.1837 heiratete, nämlich der am 25.9.1775 ebenfalls in Preiswitz geborene Wenzel Dudlo (verheiratet seit dem 6.5.1806 mit der in Preiswitz am 26.3.1782 geborenen Marianna Klotzke) schon Ackerbauer in Preiswitz.

Auch meine Großmutter Franziska, die meinen Großvater Konstantin Piecha am 22.9.1879 in Preiswitz heiratete, hatte eine bäuerliche Herkunft. Ihr Vater Franz Pieper (*Preiswitz 25.3.1827, †Preiswitz 18.3.1879) war Bauer und Sohn des Freibauern Stanislaus Pieper (* Preiswitz 4.5.1791) und dessen Ehefrau Marianna Zawada (* Preiswitz 1.2.1794), die er am 28.5.1817 geheiratet hatte. Kinder meiner Großeltern waren außer meinem Vater Johann die Söhne Franz, * Preiswitz 28.3.1881 (verh. mit Anna Krauser), Vinzent, * Kunzendorf 18.7.1885 (verh. mit Gertrud Cyranek), Engelbert,* Paulsdorf 7.11.1893 (verh. mit Maria Soltek) und Robert, *Paulsdorf 25.4.1900.

Großmutter Franziska betrieb in Hindenburg, wie ich aus Erzählungen meines Vaters weiß, einen kleinen Gemischtwarenhandel, in dem auch Tücher und Nähzeug verkauft wurden. Angeschlossen war ein sehr beliebter Bierausschank. Manche Kunden tranken das in Krügen abgefüllte Bier gleich im Geschäft. Man konnte bei ihr anschreiben lassen, sie führte dafür eine Kundenkartei. Ihre Großzügigkeit war allen bekannt. Wenn säumige Kunden nach mehrmaliger Aufforderung immer noch nicht zahlten, nahm sie die entsprechende Karte, segnete sie mit den Worten „Herr vergib den Armen“, und steckte sie in den Ofen. Da viele Kunden kauften, aber immer weniger zahlten, wurde das Geschäft schließlich während der Inflationszeit der Zwanziger Jahre als Gegenwert für eine Hose verkauft.

Aus bäuerlichem Hause stammte auch die Ehefrau meines Urgroßvaters Franz Pieper, die am 25. 7 18?? in Gieraltowitz geborene und am 21.1.18?? in Preiswitz verstorbene Anna Baron, die er am 9.11.1852 in Gieraltowitz geheiratet hatte. Auch ihr Vater, der am 12.2.1783 in Gieraltowitz geborene Valentin Baron, der seit dem 22.7.1813 mit der am 11.2.1791 in Gieraltowitz geborenen Franziska Scholz verheiratet war, wird in den kirchlichen Personenstandsdokumenten als Bauer bezeichnet.

Kinder Johann Piechas und seiner Ehefrau Elfriede von Ganczarsky, waren meine beiden in Hindenburg geborenen Schwestern Ingrid Maria(*27.2.1939) und Edelgard Elisabeth (*13.11.1941) sowie ich, der ebenfalls in Hindenburg am 30. November 1943 geborene Heinz Joachim.

Meine Eltern wohnten nicht weit entfernt von den Großeltern an der Dorotheenstraße Nr. 102. Vier von Mutters sieben Schwestern waren schon in Oberschlesien verheiratet., Elsbeth mit Karl Kotterba, Maria mit Hermann Hampf, Margarethe mit Günther Schimang und Johanna mit Alfred Smyczek. Mutter erzählte später oft von dem engen Zusammenhalt der Familien und der zuverlässigen gegenseitigen Unterstützung besonders in schwierigen Zeiten. Auch Mutters Bruder Waldemar kam oft zu Besuch.

Adelheit war nach meiner Mutter die älteste Schwester meiner sieben Tanten. Sie hatte viele Jahre einen Freund, der Maler war. Er malte sehr gut und viel, war aber nicht wohlhabend. Die beiden heirateten nicht und so blieb sie unverheiratet. Sie half gern ihren Geschwistern und hatte immer eine enge Beziehung zu ihrem Bruder Waldemar. In ihrem letzten Wohnort in Böblingen betrieb sie einen Kiosk. Später lebte sie von einer sehr kleinen Rente. Unter den Geschwistern war sie sehr beliebt.

Schwester Elsbeth war eine immer lustige und fröhliche Person. Ihr Mann Karl Kotterba war ein bekannter und überall beliebter Schneidermeister.

Ihre Schwester Maria war körperlich die Größte und mit Hermann Hampf verheiratet, einem Mann, der zwar von kleiner Statur, aber ein immer und überall erfolgreicher Geschäftsmann war und für den stets der Zusammenhalt der Verwandtschaft ein wichtiges Anliegen bedeutete. Nach dem Krieg wurde Maria schwer krank, mit enormer Hingabe pflegten ihre Geschwister sie unter Einsatz alter bewährter Hausrezepte, bis sie nach vielen Monaten wieder gesund war und keinen Rückfall mehr erlitt. Das war ein oft wiederkehrendes Thema bei Familientreffen.

Margarethe, verh. Schimang, wohnte nach dem Krieg in Erfurt und hatte zu ihren Schwestern kaum Kontakt.

Johanne, meistens Hanne genannt, war schon in Hindenburg bei der Preussag als Sekretärin beschäftigt, sie half unserer Mutter, ihrer Schwester Elfriede, maßgeblich bei der Beschaffung der Ausreisepapiere aus Hindenburg. Tante Hanne und ihr Mann, Alfred Smyczek, waren neben Onkel Hermann die treibenden Kräfte, die die Verwandtschaft zusammenhielten und immer mit Rat und Tat zur Stelle waren. Sie waren meine zweite Familie, besonders nach dem Tod unserer Mutter.

Schwester Stefanie verschlug es nach dem Krieg nach Mondsee in Österreich, wo sie den Schmied Willi Baihofer heiratete.

Schwester Charlotte war die schönste unter den Geschwistern. Sie war nach dem Krieg mit dem Arzt Rolf Assmann verheiratet und wohnte in Ostberlin in Stadtteil Pankow.

Bruder Waldemar war ein sehr zurückhaltender Mensch, lebte anspruchslos, rauchte gerne Pfeife und war kein Freund großer Feste. Er war nicht verheiratet, aber kinderlieb und hilfsbereit. Nach dem Krieg lebte er längere Zeit in Böblingen und zog dann mit einer Lebensgefährtin nach Berlin.

Während des Krieges, als die Lebensumstände immer schwieriger wurden und die Lebensmittelversorgung nicht mehr funktionierte, trafen sich die Schwestern täglich in der Wohnung meiner Eltern. Sie versorgten sich gegenseitig und tauschten im Bekanntenkreis Kleider gegen Lebensmittelmarken. Meine Mutter, eine gelernte Schneiderin, nähte Kleider und Mäntel für polnische Familien. Das Honorar in Form von Lebensmitteln und Naturalien teilte sie mit ihrer Mutter und den Geschwistern.

Als die Geschwister von ihren im Krieg kämpfenden Männern keine Nachrichten mehr erhielten und nur noch Ungewissheit über ihr Schicksal herrschte, trafen sie sich täglich vor einem kleinen Hausaltar im Wohnzimmer zum Gebet für ihre Männer, für alle Soldaten und Gefangenen und eine unversehrte Heimkehr zu den Familien.

Nach Ende des Krieges kamen alle Männer meiner Tanten völlig unversehrt nach Hause. Die Erinnerung an diese ans Wunderbare grenzende Tatsache blieb in der Verwandtschaft immer lebendig und hat den starken Zusammenhalt der Familien dieser Generation dauerhaft gefestigt.

Als ich im November 1943 geboren wurde, befand sich auch mein Vater im Krieg, per Feldpost versuchte meine Mutter ihm die frohe Kunde über die Geburt des Stammhalters zu übermitteln. Die Tatsache der Existenz meines Vaters ist mir selbst erst mit zweieinhalb Jahren bewusst geworden, als ich ihn am 5. Mai 1946 zum ersten Mal im Leben sah.

Als Soldat beider Weltkriege kämpfte mein Vater an verschiedenen Fronten, auch in den Balkanländern und in Bessarabien. Er war Oberfeldwebel und Kompanieführer, im letzten Kriegsjahr Bahnhofswach-Offizier in Hindenburg, bevor er für mehrere Monate in ein amerikanisches Kriegsgefangenenlager in Wrestedt bei Uelzen verbracht wurde. Grund dafür war wohl, dass ehemalige Soldaten aus dem oberschlesischen und nun polnisch besetzten Hindenburg in die von den Alliierten verwalteten Gebiete überstellt wurden. Nach Vaters Berichten handelte es sich um ein „Umerziehungslager“. Als ehemaliger Offizier musste er sich einer langen, intensiven Prozedur, einem „Ermittlungsverfahren über die Vergangenheit als Soldat der deutschen Wehrmacht“ unterziehen. Da er jedoch parteilos und auch kein „Mitläufer“ gewesen war, konnte er das Lager mit reiner Weste verlassen.

Gleich nach seinem Volksschulabschluss, etwa 1910, hatte mein Vater seine Ausbildung als kaufmännischer Angestellter bei einem staatlichen Vorgängerunternehmen der Preussag in Hindenburg begonnen und war dann im Finanzbereich eingesetzt worden. Vor dem Krieg war mein Vater bei der Bergwerksverwaltung in Hindenburg als Lohnrevisor beschäftigt. Nach der Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft erhielt er aufgrund seines Werdegangs und seiner beruflichen Qualifikationen eine Anstellung in der für Kohle, Erz und Verhüttung zuständigen Bergwerksverwaltung Oker/Harz in der englischen Besatzungszone. Auch dort musste er sich den alliierten Behörden stellen, die seine militärische Vergangenheit genau unter die Lupe nahmen, zurückverfolgten und aktenkundig machten. Später war er auch in der Verwaltung des Bergbaus Rammelsberg in Goslar tätig, wo fachkundiges Personal gebraucht wurde.

Trotz der Nachkriegswirren war unser Vater keinen Tag arbeitslos. Sein Arbeitsleben hatte er nur zweimal unterbrechen müssen, das erste Mal als Soldat im ersten Weltkrieg in Frankreich und das zweite Mal als Soldat im zweiten Weltkrieg. Auf diese Kontinuität war er stolz, daraus schöpfte er die Kraft und den Willen, seine fünfköpfige Familie ohne Not durchzubringen, was ihm auch auf bewundernswerter Weise gelungen ist.

Während unsere Mutter mit uns ohne Nachrichten von ihm in dem nun polnisch verwalteten Hindenburg lebte, wohnte er in einer Stube mit kleiner Kammer parterre in einem Dreifamilienhaus in der Bergstraße 14 in Oker. Allem Anschein nach gab es keine reguläre Postverbindung, so dass die von meinem Vater geschriebene Post uns nicht erreichte. Auch persönlich an Soldaten übergebene Briefe, die nach Oberschlesien zurückreisten, kamen bei uns nicht an.

Mein Vater stand aber in Briefkontakt mit seinem Bruder Robert, der im niederschlesischen Thiemendorf bei Görlitz wohnte. Von Onkel Robert erhielten wir schließlich einen Brief, der uns den Wusch unseres Vaters nahe brachte, zu ihm nach Oker zu kommen.

Der Brief Onkel Roberts mit Datum vom 11.3.1946 hatte unter anderem folgenden Wortlaut:

Meine liebe Schwägerin Elfriede und Kinder!

Ungefähr im Juli vorigen Jahres habe ich durch einen Polen an Dich einen Brief geschrieben, den Du wohl erhalten hast. Ich ersehe es daraus, daß nach Mitteilung von Johann er meine Anschrift von Dir erhielt und somit ich seit etwa einem Monat mit ihm in Verbindung stehe. Am 8.3. (vor drei Tagen) bekam ich von Johann einen 10 Seiten langen Brief aus Oker am Harz, womit er meine erste Post beantwortete. Sein sehnlichster Wunsch ist, Dich zu benachrichtigen, daß Du so bald wie möglich mit den Kindern zu ihm nach Oker kommst. Es soll Eure neue Heimat sein, denn für uns besteht keine Aussicht, in unsere Heimat zurückzukehren. So schwer wie uns das Schicksal traf, aber wir müssen es so hinnehmen. Also wenn ein Evakuierungszug bei Euch zusammengestellt wird, so begib Dich mit deiner letzten Habe und den Kindern zu der Reise nach Deutschland. Johann bewohnt in Oker 1 Stube und Kammer und wartet auf dein baldiges Kommen, da ihm bei dem voraussichtlichen großen Flüchtlingsstrom die Wohnung verloren gehen kann. Die evakuierten Züge kommen durch Görlitz oder Horka (früher Wehrkirch). Von Görlitz bin ich 17 km entfernt, von Horka 25 km. Vielleicht ist es möglich Dir, mich zu benachrichtigen, da Ihr hier erst ein paar Tage ins Quarantänelager kommt… Liebe Friedel, der Hans schilderte mir sehr viel in seinen Briefen, vor allem wie er Dir gern verständlich machen wollte, dass Du mit den Kindern zu ihm kommen sollst, da es keine reguläre Postverbindung zu Euch gibt. So habe ich mich entschlossen, Dir seinen Brief einem katholischen Pfarramt zu übersenden. Hoffentlich erreichen Dich diese Zeilen bei Gesundheit. Wir bangen sehr um Euch alle….“

Den Brief erhielt meine Mutter erst Ende März/Anfang April. Dann kam schließlich doch noch ein Schreiben meines Vaters ebenfalls mit der Aufforderung, zu ihm zu kommen. Sie konnte sich aber nicht entschließen, mit dem nächsten Evakuierungszug die Heimat zu verlassen. Es fiel ihr schwer, sich von der Geborgenheit der Großfamilie zu lösen und ins Ungewisse zu fahren. Außerdem hörte man, dass manche der Züge ihr Ziel nie erreichten.

Doch dann wurde ihr die Entscheidung aus der Hand genommen. Als sie mit ihren Kindern an einem Nachmittag Mitte April von einem Besuch bei ihrer Schwester Johanna zu ihrem Wohnhaus an der Dorotheenstraße zurückkehrte, war die Wohnung von innen verschlossen. Aus dem Inneren vernahm sie eine lautstarke Unterhaltung polnisch sprechender Personen. Nach mehrmaligem Klopfen öffnete sich die Tür, eine polnische Frau kam heraus, klärte sie darüber auf, dass die Wohnung von den polnischen Behörden beschlagnahmt worden sei und übergab ihr einige ihrer persönlichen Papiere. Mit einem Mal stand meine Mutter ohne Mittel und obdachlos mit drei Kindern auf der Straße.

Sie ging zu ihrer Schwester Hanne zurück, und kam zunächst in ihrer Zweizimmerwohnung unter. Auch die anderen Geschwister ermöglichten ihr so abwechselnd eine kurzzeitige Unterkunft.

Nach einer Beratung im Kreis der ganzen Familie wollte meine von Ungewissheit und Unsicherheit geplagte Mutter nicht mehr länger zu Lasten ihrer Geschwister in Hindenburg bleiben und entschloss sich, der Bitte ihres Mannes, mit den Kindern nach Oker zu kommen, Folge zu leisten. Betriebsrat Kowollig, Hannes Vorgesetzter, erwies sich als wahrer Freund der Familie und erklärte sich bereit, über seine Beziehungen zu den zuständigen Behörden die notwendigen Ausreisepapiere aus dem polnischen Hoheitsgebiet zu beschaffen. Hanne stellte Ausweispapiere und wichtige Dokumente zusammen, andere Geschwister versorgten sie mit Lebensmitteln für die Reise, von der keiner wusste, wie lange sie dauern würde.

Begleitet von ihren Schwestern ging sie, wahrscheinlich am 20. April 1946, die Töchter Ingrid und Edelgard an der einen Hand, mit der anderen den Kinderwagen, in dem ich lag, schiebend, zum Hindenburger Bahnhof und bestieg den Evakuierungszug in Richtung Westen. Eine vierzehntägige Reise in einem voll belegten Viehwaggon lag vor ihr, die sie, wie sie mir später oft erzählte, mit Mut, Zuversicht und Gottvertrauen antrat.

Erst in den späten Abendstunden setzte sich der Zug in Bewegung. Meine Mutter berichtete mir später oft von der Geduld ihrer drei Kinder, wie brav wir waren und dass wir nicht weinten wie andere Kinder. Wahrscheinlich aus Angst, uns zu verlieren, signalisierten wir nur selten Hunger und äußerten kaum Verlangen nach Nahrung. Ingrid erwies sich als sehr aufmerksam und umsichtig und hatte schon als Siebenjährige die Fähigkeit uns zu behüten. Meine Mutter konnte sich auf sie verlassen, entfernte sich aber dennoch nur selten von ihrem Platz.

Der Zug fuhr sehr langsam. An manchen Streckenabschnitten waren die Gleise provisorisch verlegt, ständige Fahrtunterbrechungen waren die Folge. Immer wieder wurde das Begleitpersonal ausgewechselt. Unruhe und Panik breiteten sich bei den Evakuierten aus und Tränen flossen, wenn der Zug auf freier Strecke stundenlang anhielt. Oft mangelte es an Kohle und Wasser, um die nächste Station zu erreichen. Die tägliche Fahrtstrecke betrug nicht selten weniger als 100 Kilometer. Der Zug hielt an fast jedem Bahnhof, wo immer wieder Lokomotive und Waggons überprüft und für die Weiterfahrt klargemacht wurden. Mit hohem Einsatz versuchte die Bahnhofsmission, die Flüchtlinge zu versorgen, zuerst die Frauen und Kinder, dann Soldaten und schließlich Alleinreisende.

Einmal, als der Zug ein oder zwei Kilometer vor dem nächsten Bahnhof längere Zeit stillstand, entschloss sich meine Mutter, zusammen mit anderen Flüchtlingen den Zug zu verlassen und zu Fuß zum Bahnhof zu gelangen, um dort Nahrung und Tee zu besorgen. Eine andere Mutter erklärte sich bereit, zusammen mit Ingrid auf uns aufzupassen. Eben, als unsere Mutter mit den ihr zugeteilten Nahrungsmitteln den Bahnhof wieder verließ, setzte sich der Zug in Bewegung und rollte an ihr vorüber. Nur mit Hilfe des Bahnpersonals gelang es ihr, vom Bahnsteig auf den letzten Waggon des langsam fahrenden Zuges aufzuspringen. Erst als der Zug nach einem halben Tag Fahrt am nächsten Bahnhof anhielt, konnte sie in unseren Waggon zurückkehren, wo sie uns eng umschlungen fand. Wir hatten nach Auskunft der freundlichen Frau, die uns hütete, nicht geweint, nur immer wieder leise nach der Mutter gerufen.

Bei einem Aufenthalt in Niederschlesien forderte das Bahnhofspersonal sämtliche Insassen des Evakuierungszuges auf, die Waggons zu verlassen. Der Bahnsteig füllte sich mit Hunderten von Personen. Mütter mit Kindern sollten im unterirdischen Bahnhofsbunker versorgt werden. Unsere Mutter folgte der Aufforderung, und erreichte endlich mit uns im Schlepptau die lange breite Treppe nach unten. Als eine Sirene ertönte, die an einen Fliegerangriff erinnerte, brach eine Panik aus. Plötzlich drängten viele Menschen in Richtung Bunker. Mutter wurde von hinten geschoben, verlor den Halt, der Kinderwagen glitt aus ihren Händen. Ein invalider russischer Soldat, der nur noch einen Arm hatte, griff nach dem abwärts rollenden Kinderwagen und gab ihn Mutter wieder sicher in die Hände zurück. Mich hob er aus dem Wagen und trug mich die lange Treppe hinab in den Luftschutzraum, in dem er bis zum Eintreffen der Missionsschwester blieb, während er uns zu beruhigen suchte. Diese Begegnung ist der erste Augenblick meines bis dahin zweieinhalbjährigen Lebens, an den ich mich bewusst erinnern kann. Noch heute sehe ich mich, inmitten der Menschenmenge auf dem Arm des Russen, der mir als Retter und Hüter unvergesslich geblieben ist.

Und noch eine Erinnerung ist mir geblieben: Wegen einer Reparatur der Gleisanlagen musste der Zug zwei Tage in der Nähe des Bahnhofs Görlitz warten. Wir wurden bei der Bahnhofsmission untergebracht und konnten uns von den Strapazen der Fahrt etwas erholen. Ein Aufenthalt in Bahnhofsmissionen war immer verbunden mit Entspannung, Erfrischung, hygienischer und medizinischer Versorgung und manchmal waren auch Seelsorger anzutreffen. Irgendwann versuchte meine Mutter, mit uns ein wenig aus der drückenden Enge des Bahnhofs herauszukommen und so gingen wir ein Stück in die Stadt hinein. Da stürzte völlig unvermittelt auf unserer Straßenseite eine Hausruine ein und eine Wand kippte unmittelbar vor uns auf die Straße. Erschreckt kehrten wir um und hielten uns bis zur Weiterfahrt nur noch in der schützenden Mission auf.

Am 5. Mai 1946, nach gut zweiwöchiger Fahrt, kamen wir abends in Oker an. Ich kann mich selbst noch gut erinnern, wie amerikanische Soldaten uns empfingen. Sie kamen auf uns zu, boten ihre Hilfe an und machten der Mutter in gebrochenem Deutsch Komplimente über ihr nettes Aussehen und bewunderten ihre drei niedlichen Kinder. Zum ersten Mal sah ich Menschen mit dunkler Hautfarbe. Freundlich nahmen sie Ingrid auf den Arm, schenkten uns Kekse, Schokolade, Kakao und für den Vater, den Nichtraucher, ein paar Zigaretten.

Eine Frau beschrieb uns den Weg zur Bergstraße 14, wo mein Vater wohnte, immer an der Oker entlang, an der zweiten Brücke links, dicht am Berg sollte sie sein. Wir setzten uns in Bewegung und ich höre noch heute Ingrids freudigen Ausruf: Hier stehen ja keine Ruinen!

Gegen sechs Uhr abends erreichten wir das Haus, ein paar Glöckchen über der aufgedrückten Haustür kündigten den Besuch an. Gleich rechts im Flur öffnete Mutter die Tür zu der Einzimmerwohnung, in der unser Vater an einem Tisch saß, einen Brief an seinen Bruder Robert schreibend. An die ersten Worte meines Vaters, mit denen er seine Familie empfing, kann ich mich ganz genau erinnern - ich habe mir vorgenommen, darüber zu schweigen.

In einer kleinen Zinkwanne wurden wir gewaschen, nach einem Dankgebet in die Betten der kleinen Nebenkammer gelegt und mit einer großen Pferdedecke zugedeckt, die Mutter später zu einem Wintermantel umarbeitete und gegen Talg und Pferdefleisch tauschte. Wir schliefen die erste Nacht in der Geborgenheit der nun in der Britischen Zone vereinigten Familie, in den Ohren war noch das monotone Geräusch der Gleisstöße, immer noch spürten wir das Rucken der Waggons am ganzen Körper.

Ein paar Wochen später erschien Betriebsrat Kowollig bei uns, der mittlerweile auch in den Westen gekommen war. Er war der Einzige, der ausdrücklich die Courage meiner Mutter bewunderte, mit der sie ihre Familie zusammengeführt hatte. Schon am nächsten Tag brachte er uns Töpfe, Geschirr und Besteck, damit wir alle gleichzeitig am Tisch essen konnten.

In Oker lebten wir uns sehr schnell ein. Vater hatte eine Stelle in der Bergwerksverwaltung und auch Onkel Robert kam nach Oker und fand gleich eine Beschäftigung als Bauschlosser in der Bergwerkshütte. Die Flüchtlingsfamilie Piecha war bei den Einheimischen beliebt: Die Frau Piecha ist fleißig, hieß es, sie putzt die Fenster, kann gut kochen, backen und nähen, die Kinder sind brav und höflich. Vor allem Mutters Schneidertalent sprach sich schnell herum. Sie nähte Kleidungsstücke, meist Mäntel aus Soldatendecken und bekam dafür im Tausch reichlich Naturalien, oft auch Lebensmittelkarten. Auch für die Familie des Bäckermeisters Muhs nähte sie und wir wurden dafür mit Brot und Süßgebäck, zu Weihnachten sogar mit Lebkuchen versorgt.

Als ich etwa fünf Jahre alt war, begannen die Engländer mit der Abholzung des Waldes und ich erlebte wieder eine interessante Zeit. Ich beobachtete das Ankommen der Lastkraftwagen mit den großen Rädern, den Einsatz ihrer Maschinen. Riesige Bäume wurden mit Motorkettensägen gefällt, auf Spezialanhänger verladen und vorsichtig durch die engen Straßen des Ortes abtransportiert. Ich entdeckte so die Technik, die mich auch als Erwachsenen lebenslang faszinierte.

Es blieb nicht aus, dass ich mit den Engländern in Kontakt kam, die mir in ihrer Muttersprache ihr Tun zu erklären versuchten. Einige von ihnen wurden meine Freunde, sie schenkten mir manchmal belegte Brote, köstliche Kekse, Nüsse und Trockenobst. Zu Hause wunderte man sich, dass ich oft den ganzen Tag nicht auffindbar war, abends keinen Hunger hatte und ohne zu essen todmüde ins Bett fiel, bis meine Mutter schließlich die Ursache entdeckte. Es wurde beschlossen, dass ich in den Kindergarten gehen sollte, auch wegen der täglichen Verpflegung, die mir dort sicher war.

In meiner gesamten Kindheit verbrachte ich aber nur genau einen Tag im Kindergarten, den ersten - und keinen Tag mehr! Während meine Mutter mir noch nachwinkte, ging ich in Höhe des Kindergartens links den Waldweg zu den Engländern hinauf, die mich schon erwarteten und ihr Essen mit mir teilten. Auch meiner Schwester Edelgard konnte ich so ausweichen, die mich vor ihren Freundinnen stets als Muttersöhnchen bezeichnete, was mich sehr kränkte.

Im Herbst stellten wir unseren Brotaufstrich für die kalte Jahreszeit selbst her. In einem Kupferkessel, der in der Waschküche stand, kochten wir Zuckerrüben solange, bis ein Sirup entstand. In den Wintermonaten war ich von morgens bis abends mit dem Schlitten unterwegs. Mit einigen Freunden spielte ich auf zugefrorenen Seen, legte lange Rutschbahnen an, durchstreifte die verschneiten, würzig duftenden Wälder.

Onkel Robert bastelte für uns Kinder Spielzeuge, die aber selten zum Einsatz kamen. Lieber war ich draußen bei meinen Freunden, die mich bewunderten, weil ich die Begabung hatte, aus einem Weidenstock Pfeil und Bogen herzustellen, mit denen wir manches Wettschießen veranstalteten.

Mit sechseinhalb Jahren wurde ich zu Ostern 1950 eingeschult. Vier Schulklassen teilten sich einen Raum. Wenn es sehr kalt war, musste jedes Kind von zu Hause ein Brikett mitbringen. Manchmal glühte das Rohr des großen runden Ofens, der Klassenraum war überhitzt, die Luft dick und stickig, Gestank machte sich breit, der nicht nur von der rauchenden Kohle verursacht wurde. Zum ersten Mal verspürte ich Unwohlsein, mit meinen Gedanken war ich in den Wäldern und ich hatte das Gefühl, etwas zu verpassen. Der Ernst des Lebens hatte begonnen.

Im März 1950 eröffnete uns Vater, dass wir Oker verlassen müssen, weil die Verwaltungsabteilung der Bergwerks- und Hüttenverwaltung zwischenzeitlich der Preussag AG angegliedert worden und in die Hauptverwaltung nach Hannover umgezogen war.

Am Nachmittag des 5. Mai 1950 kamen wir mit einem Hanomag-Gespann in Hannover an und hielten vor dem Haus Grabbestraße 30. Zum ersten Mal waren wir in Richtung Norden gefahren, auf der Autobahn, die Steigungen hatten wir oft fast nur im Schritttempo nehmen können. Das Rucken der Anhänger, das wiederholte Anhalten zum Nachfüllen des Kühlwassers hatte uns immer wieder an die Evakuierung von Hindenburg nach Oker erinnert.

Vater war bereits eine Woche vorher nach Hannover gereist, um seinen in der Südstadt gelegenen neuen Arbeitsplatz in Augenschein zu nehmen und die von der Preussag gestellte Wohnung herzurichten. Vater war stolz darauf, Angehöriger der Preussag und Mitglied der Knappschaft zu sein. Er hoffte, dass sein Sohn es auch einmal zum Angestellten bei der Preussag bringen würde, die 1923 vom Preußischen Staat gegründet worden und in den fünfziger Jahren noch ein prosperierendes Unternehmen war. Auch unser alter Bekannter und Freund der Familie Kowollig stand in Diensten der Preussag und war als Betriebsrat sehr beliebt. Uns Kinder überraschte er in der Folgezeit oft mit Geschenken und unterstützte unseren Vater bei seinen Aufgaben als Hauptkassenführer.

Vor der Eingangstür wurden wir von Vater empfangen. Sichtlich stolz zeigte er uns unsere neue Wohnung in der dritten Etage links, die aus drei Zimmern, einer großen Küche, Balkon, Flur und Bad bestand. Alle Zimmer waren hell und freundlich und mit bester Sicht auf die umliegenden Ruinen. Und als wir Kinder endlich erfahren wollten, mit welcher Familie wir unsere Wohnung zu teilen hatten, betonte Vater: Hier wohnt die Familie Piecha ganz allein, jedes Kind hat sein eigenes Bett, und immer müsst ihr die Hausbewohner grüßen.

Unter den Blicken unserer neuen Nachbarn, luden wir die „Okermöbel“, Feldbetten, Spind und den gesammelten Brennholzvorrat ab. Möbel fürs Schlafzimmer hatte Vater vorher ersteigert und das Zimmer schon eingerichtet. Was für ein Komfort das war! Mutter fühlte sich gleich an die Wohnung in Hindenburg erinnert, auch dort waren es helle und freundliche Zimmer in der dritten Etage gewesen. In Oker hatte sie sich nie wohl gefühlt, die enge Stube, in die wenig Sonne fiel, der Berg direkt hinter dem Haus hatten erdrückend auf sie gewirkt. Als wir uns am folgenden Tag den sieben anderen Familien des Hauses vorstellten, wurden wir freundlich begrüßt. An der Tür der Zahnarztfamilie Dr. Jagella standen drei Kinder, Peter ca. 12, Christa ca. 10 und Hannelore ca. 6 Jahre. Endlich eine Familie mit drei Kindern, fast gleichaltrig, sagte Frau Jagella, seid herzlich willkommen, nun hat jeder einen Spielpartner, das wünschen wir uns schon lange.

Familie Jagella hatte unsere ganze Kindheit hindurch bis in die Jugendzeit einen positiven Einfluss auf uns. Ich konnte Hannelore sehr gut leiden und mochte es nicht, wenn andere Jungs mit ihr spielten. Dr. Jagella besaß einen VW-Käfer und nahm uns Kinder oft zu Ausflügen mit. Er zeigte uns die schönen Stellen der noch weitgehend in Trümmern liegenden Stadt , die Eilenriede, den Maschsee, den Herrenhäuser Garten, den Mittellandkanal mit der Schiffswerft, das große Freibad und die Vahrenwalder Heide, ein kleines bewaldetes Gebiet, in der Nähe der Grabbestraße, das bald unser bevorzugtes Spielgelände wurde. Mein anfänglicher Wunsch, wieder nach Oker zu ziehen, verblasste immer mehr.

Mitte Mai 1950 wurde ich zum zweiten Mal eingeschult, in die Volksschule an der nahe gelegenen Alemannstraße. Wenn auch 30 Kinder in einer Klasse und mehrere hundert Schüler während der Pausen auf dem Schulhof für mich ungewohnt waren, fand ich schnell Anschluss und brachte Freunde mit nach Hause. Unsere Familie war die erste Familie der sieben Schwestern meiner Mutter, die seit der Vertreibung im Westen wohnte. Erst im Sommer 1950 erhielten wir Briefe, die uns endlich über den Verbleib der Verwandten Klarheit verschafften.

An dieser und an anderen Stellen würde ich gern über die Zusammenführung bzw. über die weiteren Lebenswege meiner Verwandtschaft nach dem zweiten Weltkrieg berichten. Um aber Persönlichkeitsrechte nicht auf unzulässige Weise zu berühren, werde ich mich zuvor schriftlich an meine Cousinen und Cousins wenden, und sie bitten, einer Veröffentlichung zuzustimmen. Vielleicht steuert der eine oder andere noch zusätzliche Details bei, die unsere interessante Familiengeschichte bis in die jüngere Vergangenheit fortschreiben und auch diese Fakten künftigen Generationen unverlierbar machen. Vorerst beschränke ich mich auf die folgenden kurzen Angaben, die sich nur auf die Schwestern meiner Mutter und ihre Ehemänner beziehen, deren (größtenteils lebende) Nachkommen aber unberücksichtigt lassen.

Meine Großmutter mütterlicherseits, Maria von Ganczarsky, geb. Greiner, ihre Tochter Adelheit und die mit Karl Kotterba verheiratete Tochter Elsbeth hatte es nach Zossen südlich von Berlin, in der damaligen Ostzone, verschlagen. Ebenfalls in Zossen, lebte auch die Tochter Maria mit ihrem Mann Hermann Hampf. Die jüngste Tochter, Tante Charlotte, lebte mit ihrem Mann Rolf Assmann in Pankow.

Magarethe lebte mit ihrem Mann Günter Schimang in Erfurt. Johanne war mit Ehemann Alfred Smyczek in Hindenburg geblieben, von wo sie erst ca. 1956 in den Westen kamen. Auch Waldemar war in Hindenburg geblieben und diente mehrere Jahrelang als Soldat in der polnischen Armee. Stefanie lebte im österreichischen Mondsee mit ihrem Lebenspartner.

Ungefähr 1956 zogen die Familie von Elsbeth (Kotterba) und ihre unverheiratete Schwester Adelheit zusammen mit meiner Großmutter Maria von Ganczarsky von Zossen nach Westberlin. Wahrscheinlich im selben Jahr siedelte Maria (Hampf) mit ihrer Familie von Zossen nach Böblingen über. Gut drei Jahre später kam auch Johanna (Smyczek) mit Familie aus Hindenburg nach Böblingen. Nach seiner Entlassung aus dem polnischen Militär siedelte Waldemar (von Ganczarsky) ebenfalls von Hindenburg nach Böblingen um, wo er und seine Schwester Adelheit gemeinsam in einer Wohnung wohnten.

1953 feierten wir meine Erste Kommunion schon in größerem Familienkreis. Onkel Rolf, Tante Lotte, Cousin Klaus-Peter (Assmann), Tante Maria, „Miezel“ genannt, Onkel Herrmann (Hampf) und Onkel Robert (Piecha) kamen zu Besuch. Die Ausreiseerlaubnis hatten die Ostberliner ohne Schwierigkeiten erhalten. Es war eine sehr herzliche Begrüßung, denn zum ersten Mal nach der Vertreibung sahen wir uns alle wieder. Ausführlich und lebhaft erzählten alle von den Ereignissen der letzten Jahre, vom Leben nach dem Krieg, aber auch immer wieder über das Wunder der Ganczarskys, die unversehrte Rückkehr der Männer aus dem Krieg.

Als Kommunionsgeschenk schenkte mir Onkel Robert seine Armbanduhr, von den Ostberlinern bekam ich einen Fotoapparat, eine Zeiss Ikon BZ 100 (BL 24, Optik 4,5 /110), von meinen Eltern ein Fahrrad mit Dreigangschaltung von Fichtel & Sachs. Mit dieser Ausrüstung war ich bereit für die Entdeckung der Welt.

Ebenfalls im Jahr 1953 heiratete Onkel Robert seine Lebensgefährtin Leni, deren Geburtsnamen wir nie erfuhren. Die Ehe blieb kinderlos. Bei seiner Schwägerin, unserer Mutter, beklagte sich Robert oft über die Unbeholfenheit seiner Frau, die mit der Versorgung des Zweipersonenhaushaltes überfordert war und nicht kochen konnte. Uns Kinder lehnte Leni ab. Wenn sie zu Besuch kam, kritisierte sie unsere Manieren. Meine Mutter war sehr enttäuscht. Um ihren Schwager zu erfreuen, kochte sie sein Lieblingsgericht: Rindsrouladen mit schlesischen Klößen und reichlich Soße, dazu Rotkraut mit Apfelscheiben, zum Nachtisch schlesischen Mohnkuchen. Als Onkel Robert im Herbst 1972 starb, wollte Tante Leni zu unseren Eltern in die Wohnung Grabbestraße in Hannover ziehen, um von unserer Mutter versorgt zu werden. Als Mutter nach dem Tod meines Vaters allein war, wiederholte Leni ihr Anliegen. Nach einer Beratung lehnten wir ab. Leni zog mit etwas über 60 Jahren in ein Altenheim bei Vienenburg am Harz, wo ihr eine gute Versorgung sicher war. Meine Briefe blieben unbeantwortet.

Nach meiner Kommunion trat ich nicht nur in den Schwimmverein Gosebad ein, sondern wurde auch Mitglied der katholischen Jungschargruppe Christophorus und meldete mich zudem als Ministrantenanwärter in der St. Josephs Kirche an. Mit der Jungschargruppe verbrachten wir unsere Ferien in der Natur, zelteten in einer 12-Mann-Kote mit Feuerstelle in der Mitte. Jeder musste reihum alleine Nachtwache halten. Die Wälder um Barsinghausen waren Schauplatz unserer Geländespiele, bei denen wir die Landschaft mit dem Kompass erkundeten.

In kurzer Zeit musste ich als Ministrantenanwärter für die Ministrantenprüfung sämtliche lateinischen Gebete der Andachten, Messen und des Hochamts lernen, was mir nicht leicht fiel. Dr. Jagella opferte viel Freizeit und paukte mir das Kirchenlatein ein. Aufgrund meiner klaren Aussprache konnte ich das Confiteor und das Suscipio bald ohne zu stottern aufsagen und wurde zum Ministrieren beim Bischofshochamt eingeteilt, das war ein Privileg unter den Ministranten.

Zu Hause, in Gemeinschaft mit meinen beiden Schwestern, fühlte ich mich nicht wohl. Ich erfüllte die Voraussetzungen für die Mittelschule nicht, hatte auch deswegen, als Vaters Sorgenkind, keinen guten Stand. So blieb ich Schüler der Volksschule, die ich mit dem Abschluss der 8. Klasse am 14. März 1958 verließ.

Als der Preussag-Neubau, ein Hochhaus am Leibnizufer, ca. 1954 fertiggestellt worden war. bezog Vater ein helles freundliches Zimmer mit einem Panzerschrank in der 7. Etage und Aussicht auf Leibnizufer und Innenstadt. Die sechs Kilometer zur Arbeitsstelle hin und zurück ging er jeden Tag zu Fuß. Mit 67 Jahren ging Vater 1962 in den Ruhestand. Für seine 52 Jahre lange Tätigkeit im Dienste der Preussag wurde er im Plenarsaal des Niedersächsischen Landtags zu Hannover mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse ausgezeichnet.

Kaum pensioniert, schliff Vater seine Schlittschuhe, ging jedes Wochenende acht Kilometer zu Fuß durch die Eilenriede, drehte auf der Eisbahn am Pferdeturmkreisel seine Runden, und ging dann wieder acht Kilometer nach Hause zurück. Er war der älteste Eisläufer unter den meist jungen Leuten, die ihn staunend umringten, wenn er eine perfekte Acht auf dem Eis zog oder eine Spirale auf einem Bein präsentierte. Selbst in der Hannoverschen Presse wurde er einmal so abgebildet.

Nach der Schulentlassung hatte ich den Wunsch, eine Lehre als Elektriker anzufangen. Das entsprach aber nicht dem Willen meines Vaters, der mir eine Beschäftigung als Bürobote verschaffte. Nach seiner Vorstellung sollte ich in den Büros der Preußag Akten verteilen. Er war überzeugt, dass das für mich eine angemessene Beschäftigung sei, mit einer sicheren Zukunft immer in Anzug und weißem Hemd.

Mit Unterstützung meiner Mutter, nahm ich aber an einem Ausleseverfahren der Stadt Hannover teil und konnte im April 1958 eine dreieinhalbjährige Lehre als Starkstromelektriker bei den Stadtwerken beginnen. Obwohl die Ausbildung anspruchsvoll war und ständig Zwischenprüfungen zu bestehen waren, machte sie mir viel Freude, besonders wenn meine Lehrlingsarbeiten im alten Rathaus ausgestellt wurden. Aufgrund meiner gepflegten Aussprache wurde ich auch hier auserwählt, zu Festtagen im alten Rathaus vor den Gästen, dem Oberstadtdirektor, dem Bürgermeister und Vertretern der Industrie- und Handelskammer Gedichte und Geschichten vorzutragen.

Der Jungschar- und Ministrantengruppe blieb ich treu und nutzte so jede Gelegenheit, der Kritik meines Vaters auszuweichen. Edelgard und Ingrid waren ausschließlich vaterbezogen, bei beiden hatte ich als Bruder keine Chance. Um meinen Schwestern im Schulwissen nicht nachzustehen, meldete ich mich bei der Volkshochschule zum Kurs „Rechnen mit Gleichungen“ an, wurde aber nicht zugelassen, weil ich noch nicht 16 Jahre alt war. Ich ging zur Sekretärin, erklärte mein Anliegen, und sie bewunderte meine Courage. So wurde ich mit 14 Jahren der jüngste Teilnehmer der Volkshochschule Hannover.

Mit großem Interesse verfolgte ich jedes Jahr den Aufbau der Hannover Messe. Als Lehrling der Stadtwerke Hannover erhielt ich Freikarten und nahm jede Gelegenheit wahr, das weltgrößte Ausstellungsgelände zu besuchen. Ich war angetan von der Wunderwelt der Technik. Die riesigen Baufahrzeuge, Hubgeräte, Krananlagen, elektrischen Lokomotiven und die vielen anderen Maschinen faszinierten mich ebenso wie die unzähligen freundlichen und interessanten Menschen aus allen Regionen der Welt. Während der Messezeit vermieteten wir ein Zimmer unserer Dreizimmerwohnung an Messebesucher und hatten unter anderem Schweizer, Engländer und Inder als Gäste bei uns zuhause, für mich eine prägende Erfahrung.

In manchen Jahren kamen auch Onkel Alfred (Smyczek) und Onkel Herrmann (Hampf) als Messegäste bzw. Aussteller zu uns. Onkel Alfred war Konstrukteur und interessierte sich für den industriellen Rohrleitungsbau und für den Bau bzw. die Konstruktion mittlerer Raffinieranlagen. Ihm konnte ich mit meinen Ortskenntnissen sehr behilflich sein und durfte ihn später sogar mit seinem Geschäftswagen, einem Opel Olympia, nach Hause chauffieren. Onkel Hermann stellte als Geschäftsführer die Produkte seiner Firma, Präzisions- und Mikroschalter für elektrische Schaltgeräte, aus. Wegen meines technischen Verständnisses war ich gern gesehener Besucher seines Ausstellungsstands und durfte als Zuhörer an Verhandlungen teilnehmen. Darauf war ich sehr stolz. Die Hannover Messe wurde ein Fixpunkt in meinem Leben. Später besuchte ich sie sogar als technischer Beamter, als ich für meinen Auftraggeber, die Deutsche Post AG, über den neuesten Stand elektronisch gesteuerter Sortieranlagen berichten sollte.

Onkel Hermann und Onkel Alfred haben mich übrigens ein Leben lang begleitet. Ich erinnere mich gern an das Zusammensein in unserer Wohnung in Hannover. Von beiden erhielt ich in schwierigen Zeiten Trost und Beistand. Die Familie Smyczek war meine zweite Familie, besonders nach dem Tod meiner Eltern. Meine Schwester Ingrid verließ 1956 mit ungefähr 17 Jahren das Elternhaus, zog nach London und arbeitet gut eineinhalb Jahre als Au-pair-Mädchen bei einer Diplomatenfamilie namens Mendossa. Nach ihrer Rückkehr aus England nahm sie an einer Ausbildung zur Dolmetscherin teil. Mit 20 Jahren wanderte Ingrid nach Amerika aus. Sie war beruflich in Omaha (Nebraska), später in einem Washingtoner Anwaltsbüro tätig. 1973 heiratete sie den Amerikaner Kenneth Voigt.

Die Eheleute Voigt besuchte ich in Amerika dreimal. Bei jedem der Besuche traf ich sie unmittelbar nach einem Wohnungswechsel an, sei es, dass sie gerade eine größere 8-Zimmer-Eigentumswohnung neu gekauft hatten, sei es, dass sie, wie zuletzt, in ein 4-Etagen-Haus in der Nähe von Washington DC eingezogen waren. Meine Besuche waren stets willkommen, da ich bei diesen Amerikaaufenthalten mit umfangreichen Renovierungsarbeiten beauftragt wurde. Ingrid sprach immer von deutscher Wertarbeit. Ich wollte aber auch das interessante Land der unbegrenzten Möglichkeiten gut kennenlernen. So lieh ich mir einen Pkw und fuhr durch die Staaten, anfangs 1976 nach Florida, beim zweiten Besuch 1984 in den Norden, die Atlantikküste entlang.

Beim letzten Aufenthalt 1990 besichtigten wir Museen und interessante Gebäude in Washington DC, wohin wir von Ingrids Haus aus auf dem achtspurigen Highway in knapp einer Stunde Fahrt gelangen konnten. Bei der Besichtigung des Kapitols wurden wir im Untergeschoss von einem Studenten in Empfang genommen, der sich in dem dort untergebrachten Archiv mit deutscher Kriegs- und Nachkriegsgeschichte befasste. Sehr freundlich informierte er uns über die Möglichkeit für die Nachkommen deutscher Soldaten des zweiten Weltkriegs, innerhalb von wenigen Minuten die Vergangenheit der Väter anhand der vorliegenden Dokumente lückenlos in Erfahrung zu bringen, eine Gelegenheit, die ich gerne wahrnahm.

Ich besuchte auch den Südwesten der USA. Von Las Vegas aus fuhren wir mit einem Leihwagen durch die Südstaaten Nevada, Utah, Colorado und Arizona. Das größte Erlebnis dieser Reise war der Besuch sämtlicher Canyons. Unvergessliche Eindrücke nahm ich vom Grand Canyon, aus dem Monument Valley, aber auch von Downtown Las Vegas mit nach Hause.

Am 7. Januar 2008 verstarb Ingrid, wie mir ein Tag später telefonisch mitgeteilt wurde. Sie war 69 Jahre alt. Über die näheren Umstände ihres Todes habe ich nie etwas erfahren.

Edelgard war lange Zeit Mitglied in einem Tanzclub. Ihre Kleider, die mit Petticoats aufgebauscht sein mussten, nähte natürlich unsere Mutter. Ihre Tanzpartner und Freunde kamen oft zu Besuch. Als wir unsere erste Musiktruhe mit Plattenspieler bekamen, wurde im Wohnzimmer lateinamerikanisch getanzt. In der Adventszeit spielte Edelgard Weihnachtslieder auf der Geige und sorgte für weihnachtliche Stimmung.

1969 heiratete Edelgard in Trier. Am Tag der Hochzeit, beim abendlichen Festmahl, übergab Vater seinem Schwiegersohn einen Teil seiner Ersparnisse als Mitgift. Er nannte sie „eine gute Anlage als Start für eine erfolgreiche Zukunft“. Später sprach Vater von einem Höhepunkt in seinem Leben.

Meine Schwester ging mit ihrer Familie jedoch ihre eigenen Wege, die wir nicht mehr verstanden. Meine Eltern waren damit nicht glücklich, sprachen aber auch von Zufriedenheit. Ihre Tochter befand sich in guten Händen.

Ab dem dritten Lehrjahr, 1961, besuchte ich abends die Berufs-Aufbau-Schule. Nach einjähriger Monteurzeit als Starkstrom-Elektriker wechselte ich zur BAS Tagesschule. Kurz nachdem ich die Fachschulreife erworben hatte, wurde ich im Herbst 1963 zur Bundeswehr eingezogen. Ich leistete die18 Monate Wehrdienst beim Panzergrenadierbataillon der Heeres-Offiziersschule Hannover ab. Manche Wehrübungen in der Lüneburger Südheide erinnerten mich an die Geländespiele meiner Jungscharzeit.

Nach der Bundeswehrzeit fand ich in der Kabelbauabteilung der Stadtwerke Hannover eine Anstellung als Starkstrom-Elektromonteur. Wir installierten spezielle Hochspannungsleitungen und bauten Hochspannungsstationen. Hannover war damals die erste Stadt im Bundesgebiet, die Hochspannungsleitungen mit über 10 000 Volt unterirdisch verlegte. Gleichzeitig besuchte ich, wieder in Abendform, die staatliche Technikerschule Hannover. Im September 1966 wechselte ich zur staatlichen Techniker-Tagesschule Braunschweig, die ich mit dem Abschluss eines Elektro- und Elektroniktechnikers im März 1968 verließ.

Diesen wichtigen Erfolg hatte ich auch dem Betriebsleiter Kowollig zu verdanken. Zu Beginn der Technikerschule hatte mich Herr Kowollig in sein Büro im Hauptgebäude der Preußag eingeladen. Er unterzog mich einem Informationstechnik-Test mit dem Ergebnis, dass ich als Kind eines ehemaligen Betriebsangehörigen in die Begabtenförderung der Preussag aufgenommen wurde und eine zweijährige Studienförderung von monatlich 300 DM erhielt, So konnte ich entgegen den Vorstellungen meines Vaters und ohne seine finanzielle Unterstützung den von mir gewünschten berufliche Werdegang fortsetzen. Nach einer Zwischenzeit als Praktikant im Konstruktionsbüro der Stadtwerke Hannover begann ich im Februar 1969 mein Universitätsstudium an der Gesamthochschule Paderborn im Fachbereich Elektrotechnik/Elektronik.

Im zweiten Semester 1969 streikten sämtlich technische Hochschulen im Bundesgebiet und kämpften für eine neue Hochschulreform nach den Vorgaben der „Römischen Verträge“. Die Studiengänge sollten reformiert werden. Die bis dahin klassischen Ingenieurschulen wurden teilweise abgelöst und zu Universitäts-Gesamthochschulen umgewandelt. Unter anderem wurden zwei Klausuren je Studienfach und eine Diplom-Abschlussarbeit Pflicht. Seitdem hieß der Absolvent nicht mehr „Ingenieur (grad)“ sondern „Diplom-Ingenieur“ und konnte europaweit studieren, bis zur Promotion.

Meine Diplomarbeit hatte das Thema: “Bau und Prüfung einer Vollpol-Synchron-Maschine“. Die Maschine diente zur Aufnahme von Kennlinien bei wechselnder Belastung und wurde sogar zu Ausbildungszwecken im elektrischen. Prüflabor der Hochschule installiert.

Unmittelbar nach meiner Einstellung bei der Deutschen Bundespost im Februar 1973 begann ich meine Laufbahn als technischer Beamter des gehobenen. Dienstes. Meine beruflichen Ziele entsprachen aber nicht den Vorstellungen meines Vaters. Ostern, kurz vor seinem Tod, ermahnte mich mein Vater „zur Vernunft“. Mein bisheriger Weg war nach seiner Vorstellung vergeudete Zeit, die ich in meinem Leben nicht mehr aufholen konnte. Ich sollte mich nach seinen Töchtern orientieren, die zwar ohne berufliche Qualifikation seien, aber einen gradlinigen Lebensweg eingeschlagen hatten, wie es jedenfalls zu dem Zeitpunkt noch erschien. Ich blieb dabei, meine eigenenBerufsziele zu verwirklichen. Meine Ausbildung als Beamtenanwärter dauerte ein Jahr und endete mit einer viertägigen Abschlussprüfung in der Direktion Hamburg. Überraschenderweise wurde ich sofort zum Oberinspektor befördert, eine sehr unübliche Verfahrensweise.

1973 verschlechterte sich Vaters Gesundheitszustand rapide. Ärztliche Behandlung erbrachte keine Besserung. Ostern 1973 verabschiedete sich Vater telefonisch von seiner Verwandtschaft, da er keine Hoffnung mehr auf Gesundung hatte. Am 6. Mai wachte Vater aus seinem Mittagschlaf nicht mehr auf und war nicht mehr ansprechbar. Mutter war allein. Mit Hilfe der Nachbarn brachte ein Krankenwagen Vater ins Nordstadtkrankenhaus, wo er am 10.05.1973 an Organversagen verstarb. An der Beerdigung meines Vaters nahm unsere Verwandtschaft fast vollzählig teil. Ingrid hatte gerade eine Operation überstanden und konnte die weite Strecke aus den USA nicht fliegen.

Soweit es mir neben meiner Ausbildung zum Beamtenanwärter möglich war, versorgte ich meine Mutter. Doch auch meine Mutter wurde einige Monate später schwer krank. Unter Schwierigkeiten brachte ich sie in einem sehr labilen Zustand in das Krankenhaus der Medizinischen Hochschule Hannover. Aber alle ärztlichen Bemühungen waren vergeblich. Am 10.11.1973 verstarb meine Mutter allein und ohne Beistand in ihrem Krankenzimmer.

Die Liebe meiner Mutter hatte mich mein ganzes Leben begleitet. Sie hatte großen Einfluss auf mich und meine Lebensgestaltung und half mir in schwierigen Zeiten. Auch meine beruflichen Erfolge sind ohne sie nicht zu denken. Ich bin traurig, dass ich ihr nur wenig zurückgeben konnte.

Im Februar 1974 wurde ich von Hannover nach Uelzen versetzt, mit dem Auftrag, im postalischen Bereich der südlichen. Lüneburger Heide eine technische Stelle einzurichten. Als Vollbluttechniker hatte ich keine Probleme, technische Prozesse sowie eine Ablauforganisation einzuführen, mit der Verwaltung allerdings, dem Rechnungs -und Personalwesen hatte ich anfangs doch Schwierigkeiten.

1978 ließ ich mich nach Göttingen versetzen. Hier erhielt ich den Auftrag, eine posttechnische Stelle für den Aufbau einer neuen Generation von Sortieranlagen, vorzubereiten. Ich besuchte gleichzeitig die Verwaltungsakademie der Uni Göttingen, absolvierte ein dreijähriges Studium in Abendform und erwarb so eine wichtige Zusatzqualifikation.

1982 bewarb ich mich beim Posttechnischen Zentralamt Darmstadt. In meiner fast sechsjährigen Tätigkeit im PTZ war ich im technischen Referat vielseitig beschäftigt und zuständig für die Begutachtung überregionaler Verbesserungsvorschläge, für Kosten-Nutzenanalysen von technischen. Anlagen, die Beseitigung überregionaler Störfälle, für Kontakte mit Firmen, vor allem AEG-Telefunken, und fungierte als Lehrgangsleiter. Obwohl ich Freude an meinem Beruf hatte, kam ich mit der lauten Geräuschkulisse der Stadt Darmstadt nicht zurecht. Direkt über meinem Wohngebiet stiegen die in Frankfurt startenden Flugzeuge mit ohrenbetäubendem Lärm im Minutentakt auf, was mich sehr belastete.

1988 ließ ich mich wieder nach Göttingen versetzen. Hier musste ich den technischen Bereich vergrößern und wurde als Leiter der Betriebstechnik Göttingen dem Team zugeteilt, das sich mit dem betriebstechnischen Aufbau eines Betriebszentrums befasste. Nach der deutschen Wiedervereinigung meldete ich mich zu einem einjährigen Einsatz ins Verkehrs-Gebiet-Ost (VGO). In Erfurt richteten wir eine große posttechnische Stelle zur Versorgung des Thüringer Bereichs ein. Schwierig war die Beseitigung verschiedener Altlasten und die fachgerechte Einstufung des technischen Personals. Alles in allem war das eine interessante, ereignisreiche Tätigkeit mit reichlich Anpassungs- und Lernpotential.

Nach meiner Erfurter Zeit nahm ich an Fortbildungsmaßnahmen im Bereich des Gefahrgutes teil und konnte mich so zusätzlichen Herausforderungen in verschiedenen betrieblichen Problembereichen stellen. Bei Lehrgängen an der European Business School Schlangenbad frischte ich gleichzeitig meine betriebswirtschaftlichen Kenntnisse auf.

Verschiedene im Laufe meines Arbeitslebens von mir eingereichte Verbesserungsvorschläge wurden umgesetzt, mit Prämien und Leistungszulagen belohnt, ein Teil meiner Ideen wurden im Intranet veröffentlich und Ausschnitte im Internet beschrieben. Besonders stolz bin ich darauf, entscheidend an der Einführung einer speziellen Verpackung für den sicheren Transport von medizinischen Gefahrstoffen beteiligt gewesen zu sein, die den einschlägigen Gefahrgutvorschriften nach EU-Norm und des Bundesluftfahrtamts entspricht und Sicherheit vor Infektionen und Kontaminierungen der mit dem Versand befassten Personen gewährleistet.

1990 heiratete ich eine ganze Familie: meine Frau Rosmarie mit ihren beiden Kindern. Einer der besten Entschlüsse meines Lebens. Im selben Jahr kaufte ich ein Haus. Nach umfangreichen Erweiterungsmaßnahmen, in die ich viel Eigenleistung steckte, wohnen wir in nun einem idyllischen Heim an der Deutschen Märchenstraße und fühlen uns sehr wohl. Rosi pflegt ihre selbst angelegten Rosenterrassen, ich verwirkliche ihre Gestaltungsideen, indem ich Gartentische und Rosenbögen schweiße. So gerüstet, erwarten wir oft und gern den Besuch unserer Kinder und Enkelkinder.

Drei Generationen an einem Tisch in unserem Wohnzimmer zu sehen, bedeutet für mich reinste Freude. Unsere beiden Enkelkinder, zehn und zwölf Jahre alt, sind unser Sonnenschein. Meine Frau überrascht uns immer wieder mit ihrer Kochkunst. Alles in allem eine Familienharmonie, die ich nicht mehr missen möchte.

Im April 2004 ging ich den Vorruhestand, hatte mein Ziel „75%“ erreicht. Nun bin ich mit vielen angenehmen Dingen beschäftigt, plane weite Urlaubsreisen, bereite Radtouren vor, trainiere dafür fleißig und lege mit dem Fahrrad durchschnittlich 3500 km jährlich zurück, um meine jährliche Alleinradtour von rund 1100 km gut zu überstehen. Ich bin schon mit dem Rad nach Wien gefahren, nach Salzburg ins Salzkammergut, zweimal durch Norddeutschland. Immer waren das wunderbare Abenteuer mit unvergesslichen Begegnungen.

Einmal im Jahr zeltet Opa Heinz mit den Jüngsten in der Lüneburger Heide, schreibt für sie selbstillustrierte Geschichten und bringt ihnen das Gitarrenspiel bei. In einer Ganztagsschule bin ich ehrenamtlich tätig, helfe Kindern bei Mathematikaufgaben, erzähle von meinen Reisen, von meiner Expedition durch die Wüste Tenere, halte Vorträge über das Leben der Steinzeitmenschen, demonstriere Jahrtausende alte Steinzeitwerkzeuge, von denen ich 20 eindrucksvolle Exemplare besitze. Im Werkunterricht bauen wir Holzmodelle nach Wünschen der Kinder, konstruieren einfache kleine Holzkatamarane, mit denen wir Wettrennen veranstalten. Was ich dabei erlebe, sind einmalige Stunden voller glücklicher Augenblicke.

Hier endet bis auf weiteres mein Versuch, alles mir Bekannte über die Hindenburger Familie von Ganczarsky und ihre Nachkommen zu Papier zu bringen, soweit es mir gestattet ist. Vieles Interessante mehr hoffe ich schon bald hinzufügen zu können. Weitere Einzelheiten, Informationen und Dokumente, die mir an unserer Familiengeschichte Interessierte zusätzlich zur Verfügung stellen, werde ich dankbar aufgreifen und in diese Darstellung einfließen lassen.